Jeder Handgriff ist bis auf die Sekunde geplant

Jeder Handgriff ist bis auf die Sekunde geplant

Frankfurter Rundschau | 29. April 2003

Im neuen Opel-Werk in Rüsselsheim entscheidet die Gruppe, wie lange jemand wofür brauchen darf / Erfahrungsberichte nach einem Jahr

Von Michaela Böhm

RÜSSELSHEIM. Klein-Japan liegt in Rüsselsheim. Kaizen, Poka Yoke, Andon - Begriffe aus dem Produktionssystem von Toyota gehen den Fließbandarbeitern flüssig über die Lippen. Das neue Opelwerk gilt als das modernste Werk der Welt. Pro Stunde laufen 52 Autos vom Band.

Das Fließband stoppt. Pause. Zehn Minuten Zeit zum Frühstücken. Bernhard Hortsch schlägt die Zeitung auf, fliegt über die Seiten, blättert weiter. Ihm gegenüber hockt sein Kollege und beißt in eine Stulle. Zum Reden hat keiner Lust.

Die beiden sitzen in ihrer Pausenzelle, ein kinnhoher Kasten, abgeschirmt von drei Wänden. Wenn Bernhard Hortsch rausguckt, schaut er direkt aufs Fließband, wenige Schritte entfernt. Innen ist Platz für die vier Arbeiter und ihren Sprecher, die zusammen eine Gruppe sind. Einer ist auf Toilette, ein anderer hat sich zum Rauchen verdrückt. Raucher haben im neuen Opelwerk weite Wege.

Hortsch klappt die Zeitung zu, kurz bevor der Gong das Pausenende ankündigt. Dafür muss er nicht auf die Uhr schauen. Nach 24 Jahren ruckt der Körper von selber los. Die Männer stehen schon alle da, jeder auf seinem Platz. Sachte fährt das Band an. Bernhard Hortsch wird die nächsten Stunden abwechselnd festen Boden unter den Füßen haben, wenn er in den Materialkasten greift oder den Schrauber aus der Aufhängung zieht. Und dann wieder auf dem Band stehen und sich fahren lassen wie auf einem Rollband am Flughafen. Auf den Boden gucken - fahr ich oder steh ich - das macht ihn längst nicht mehr schwindlig.

Bernhard Hortsch und seine drei Kollegen bauen Airbags ein. Das sind so genannte kritische Operationen. Weil es um die Sicherheit der Autofahrer geht und besonders sorgfältig gearbeitet werden muss. Doch Menschen machen Fehler. Damit keinem ein Irrtum unterläuft, gibt es das Poka-Yoke-System. Poka Yoke ist japanisch. Die Arbeit im neuen Werk unterscheidet sich kaum von der bei Toyota. Poka Yoke bezeichnet ein Sicherheitssystem, das verhindert, dass eine Schraube nicht richtig festgedreht und ein Stecker falsch eingesetzt wird. Doppelt hält besser: Hortsch bekommt über ein Piepsen und ein Leuchtsignal angezeigt, ob der Drehmoment der Schraube in Ordnung ist.

Ohne Kissen macht sich Bernhard Hortsch gar nicht ran ans Auto. Also, Kissen untern Arm klemmen, den Poka-Yoke-Schrauber aus der Aufhängung ziehen, vier Schrauben aus dem Materialkasten greifen. Das flache Kissen legt Hortsch aufs nackte Blech, dort, wo später die Rückbank eingebaut wird. Er zieht den Kopf ein und schwingt sich mit dem Oberkörper ins Auto. Er steckt die Schraube auf den Schrauber, setzt ihn in die vorgestanzte Öffnung, ein kurzes Surren, das Licht leuchtet, der Leuchtpunkt verschwindet, alles okay, nächste Schraube. Viermal. Er holt einen Stempel aus der Hosentasche, so groß wie ein Korken, und drückt ihn auf die vorgezeichneten Kästchen des Kontrollzettels, viermal. Stempel in die Hosentasche, raus aus dem Auto, Kissen untern Arm geklemmt. Das hat 60 Sekunden gedauert. In der Zeit ist Bernhard Hortsch zwei, drei Meter auf dem Band mitgefahren. Er geht der nächsten Karosse entgegen, die sich auf ihn zuschiebt.

Sieben Stunden und 45 Minuten werden im Opelwerk gearbeitet. Das macht 465 Mal Kissen reinlegen, 465 Mal Kopf einziehen, 1860 Schrauben reindrehen, 1860 Mal stempeln. Stimmt nicht. Falsch gerechnet. Nach jeder Pause tauschen die vier Männer einer Gruppe ihren Arbeitsplatz. An den anderen Stationen hängen sie Airbags ein, verschrauben Massebänder und verlegen Kabelsätze. "Das ist abwechslungsreich", sagt Gruppensprecher Karl Doehren, und verhindert einseitige Belastungen.

Jeder der vier Arbeiter muss jeden Handgriff beim Airbageinbau beherrschen. Auch deshalb wird alle eineinhalb Stunden gewechselt. Nach jeder Pause. Jetzt ist Zeit zum Pinkeln. Und wer zwischendrin mal muss? Übers Pinkeln reden die Männer nicht gern, sie drucksen herum. Wer aufs Klo will, muss den Gruppensprecher rufen. Hat der keine Zeit, weil er für einen kranken Kollegen am Band einspringen muss, heißt es ausharren. Nur wer ein Attest hat, darf jederzeit aufs Klo. Bei Daimler-Chrysler hatte es einer nicht ausgehalten. Wütend darüber, dass ein Fließband den Pinkeltakt vorgibt, hat er aufs Band uriniert.

Und vorarbeiten? Fixer sein als der Takt und sich selbst eine Pause gönnen? Hortsch schüttelt den Kopf. "Der Arbeiter kann sich selbst keine Zeit erobern."

Das neue Werk ist fast so groß wie sieben Fußballfelder. Durch Fenster so hoch wie Lastwagen fällt Tageslicht. Nicht wie im alten Werk, wo keiner wusste, ob es Tag ist oder Nacht. Aus der Vogelperspektive sieht das Werk aus wie ein halber Stern. An den Zacken docken die Lastwagen an. Dadurch kann das Material auf kurzem Weg ans Band geliefert werden. Das macht die ratternden Gabelstapler überflüssig. Schnurgerade kriecht das Band durch die Halle, hievt die Karossen bis unters Dach, setzt sie um und legt den gleichen Weg wieder zurück. Karosserie und Chassis schieben sich vollautomatisch zusammen. Wieder ein paar Mann weniger. Knapp 7000 arbeiten heute noch in der Fertig- und Endmontage, ein Drittel weniger als im alten Werk.

Zehn Minuten zu Fuß entfernt ist die alte Halle. Muffig ist es hier und duster. Mitte des Jahres wird der letzte Omega vom Band laufen. Dann geht das Licht in diesem Werk aus. Hier transportiert das Band nur den Wagen. Wer schraubt, muss neben dem Auto herlaufen und im Gehen schrauben. Wer Scheinwerfer einbaut, muss rückwärts laufen. Das gleichmäßige Gleiten des Bandes diktiert den Füßen das Tempo. Wer den Himmel montiert, muss ins Auto klettern. Vom Kopf bis zum Po im Innenraum, die Beine hängen aus dem Wagen. Damit sie nicht hinterherschleifen, heben und senken sich die Füße, als würde einer Luft treten.

Im alten Werk ist ein Arbeiter über drei bis vier Stationen mitgefahren und hat mehrere Arbeiten erledigt. Wochen habe es gedauert, sagt Meister Pascal Fell, bis ein Beschäftigter angelernt war. Im neuen Opelwerk beschränkt man sich auf maximal eine Arbeit pro Station. Das begreift einer ganz schnell.

Wie viele Sekunden sind nötig, um ein Kabel anzuschließen? Wie lange dauert das Surren des Schraubers? Jeden Arbeitsschritt zerhacken die Zeitmesser in einzelne Handgriffe und legen fest, wie lange einer maximal dafür brauchen darf. Airbag einbauen: vier Mann, eine halbe Minute. Daran ist nicht zu rütteln. Aber auch laufen, bücken, stehen, hinsetzen kostet Zeit. Wie lang darf Hortsch brauchen, um sich auf sein Kissen zu schwingen Das entscheidet die Gruppe. Ein Schritt ist ein Meter, ist eine Sekunde. Geht's auch schneller? Wer den Materialkasten näher zu sich heranzieht, spart einen Schritt, spart eine Sekunde. Optimieren ist unser Hauptjob, sagt Fell. Ziel ist, dass jeder jede Minute am Tag voll ausgelastet ist. "Wenn wir Wegzeiten einsparen, dann kriegt einer noch eine andere Arbeit dazu", sagt Gruppensprecher Karl Doehren.

Bernhard Hortsch hat gewechselt. Jetzt verlegt er Kabelsätze. Zwei Meter hinter ihm arbeiten die Kollegen der Nachbargruppe. Ihre Karosserie ist allerdings angehoben, etwa bis Kniehöhe. Damit sich keiner mehr bücken, verdrehen und verrenken muss. Jede einzelne Arbeitsstation kann in neun verschiedene Positionen verstellt werden. Das ist neu, hat allerdings einen Haken: Die Arbeiter einer Gruppe müssen etwa gleich groß sein.

Bernhard Hortsch ist wieder da, wo er heute Morgen angefangen hat. Kissen reinlegen, Schrauben aufsetzen. Das macht er heute, das macht er morgen, nächste Woche, nächstes Jahr. Immer in der gleichen Gruppe. Trotzdem sei es besser als im alten Werk. "Weniger Handgriffe, der Takt ist schneller, aber die Beine tun nicht mehr so weh wie früher, als wir auf dem Band mitlaufen mussten." 17 Euro pro Stunde, ein Drittel über Tarif, verdient einer bei Opel durchschnittlich.

Ab und zu ruckt ein Kopf nach oben. War das unsere Melodie, die da klingt? Mitten im Surren der Bohrer und metallischer Hämmer klingen kurze Lieder an. Zum Beispiel "Macht hoch die Tür, die Tor macht weit". Die Töne mischen sich mit anderen zu einem Klangknäuel, und jedes Mal gucken gleich mehrere Köpfe hoch, ob die rote Lampe blinkt. Auch die Klingeltöne gehören zum japanischen Produktionssystem. Wenn sich eine Schraube nicht reindrehen lässt, weil das Gewinde beschädigt ist, muss der Arbeiter die Leine ziehen. Eine Schnur, die in Kopfhöhe entlang des Bandes gespannt ist. Sobald einer zieht, klingen die zwei, drei Takte an und der Gruppensprecher flitzt, um den Fehler zu beseitigen. Viel Zeit bleibt ihm nicht. Ist das Auto schon vorgerollt bis zur blauen Markierung auf dem Boden und er hat die Leine nicht ein zweites Mal gezogen, um zu signalisieren: alles in Ordnung, dann bleibt das Band stehen.

Das Band zu stoppen, das hätte einen Arbeiter im alten Werk den Job gekostet. Heute ist es ein Muss. "Das ist das Andon-System", sagt Bernhard Hortsch. "Wir nehmen keine Fehler an, wir machen selbst keine und geben auch keine weiter." Alte japanische Weisheit.