Wenn die Luft wegbleibt

Wenn die Luft wegbleibt

Frankfurter Rundschau | 12. September 2003

Mitarbeiter der ehemaligen Bremer Vulkan-Werft kämpfen darum, ihre Asbesterkrankung anerkannt zu bekommen

Von Michaela Böhm

Da setzt jemand Fuß um Fuß auf die Stufen, hält an, keucht sich die Luft stoßweise aus der Lunge. Noch ein paar Stufen, anhalten, verschnaufen. Karl-Heinz Kania hebt die Hand zum Gruß, dann lässt er sich wortlos auf den Stuhl sinken.

Karl-Heinz Kania war 30 Jahre lang Schiffsreiniger. Zuständig für "alles, was Dreck war". Wasser, Öle, Fette hat er abgesaugt, Rohre rausgerissen und Platten. Asbesthaltige Rohre und Platten. Nur wusste er das damals nicht. Niemand wusste das. Als es bekannt war, hat keiner daran geglaubt, dass man viele Jahre später davon krank werden könnte.

"Der zerfällt mir", sagt seine Frau. Kania ist 64 Jahre alt, wiegt 60 Kilo und hat die Kondition eines 80-Jährigen. Früher hat er gern getanzt. "Leidenschaftlich", sagt seine Frau. Kania tanzt nicht mehr. Weil die Luft fehlt. Der ehemalige Schiffsreiniger hat zwei Berufskrankheiten: eine Asbeststaublunge, genannt Asbestose, und Silikose, die Quarzstaublunge. Mit 56 Jahren hat Kania aufgehört zu arbeiten. Geschwüre am Zwölffingerdarm und Durchblutungsstörungen haben ihn zum Frührentner gemacht. Nicht die beiden Berufskrankheiten. Die Lunge funktioniert noch gut, sagen die Ärzte. Deshalb bekommt Kania keinen Cent von der Berufsgenossenschaft.

Der Stein, so groß wie eine Faust, funkelt nicht, glitzert nicht. Nur was für Mineraliensammler. Aber ein Wunderstoff. Denn Asbest ist feuerfest, biegsam, ideal für Bremsbeläge, Autoreifen, Dächer, Feuerschutzwände, Rohrleitungen und Blumenkästen. So wunderbar wie lebensgefährlich, sagt Professor Hans-Joachim Woitowitz und legt den Stein sorgfältig zurück auf seinen Schreibtisch. Der Internist und Arbeitsmediziner der Universitätsklinik in Gießen weiß, was der Wunderstoff anrichtet. Seit 30 Jahren ist er Gutachter für Asbestkranke. Sobald das Mineral beschnitten, gemahlen, zerhackt oder geschliffen wird, ziehen Mund und Nase mit der Atemluft feinste Asbestfasern in die Lunge, wo sie sich wie kleine Nadeln verhaken.

Erst fällt es nur schwer, Stufen zu steigen. Oder Rad zu fahren, ein Beet umzugraben. Dann kommt der Husten. Manchmal schleudert er kleinste Asbestkörperchen nach draußen. Mit dem Stethoskop hört man, wie es leise prasselt in der Asbeststaublunge. Knisterrasseln, sagen Mediziner, typisch für Asbestose. Immer dünner wird der Patient, schwach und schlapp. Die sonst so elastische Lunge vernarbt, bis sie so starr wird wie ein von Farben und Lacken strotzender Lappen. Bis es nicht mehr geht ohne Sauerstoffgerät.

Die Asbeststaublunge kann kein Arzt heilen. Selbst wenn keine einzige Asbestfaser mehr eingeatmet wird. Asbestose ist selten tödlich. 58 Menschen sind im vergangenen Jahr daran gestorben. Schutzanzüge, Atemschutzmasken, Absaugschläuche sollen heute verhindern, dass Asbestfasern in die Lunge eindringen.

Abgehakt. Altes Gift einer sterbenden Industrie, das seit knapp zehn Jahren verboten ist. Asbestprodukte dürfen nicht mehr hergestellt und nicht verarbeitet werden. Doch an Krebs, verursacht durch Asbest, sind im vergangenen Jahr weit mehr als 1000 Menschen gestorben. Der Gipfel ist längst nicht erreicht. Bis zum Jahr 2020 erwartet der Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften 20 000 Todesfälle durch Asbest. Schon jetzt gibt es mehr Asbesttote als Menschen, die durch Arbeitsunfälle sterben.

Kann sein, dass 15 Jahre lang nichts passiert. 20 oder auch 30 Jahre nicht. Vielleicht ist einer Rentner, so wie Kania. Vielleicht ist die Firma bis dahin aus dem Handelsregister verschwunden - wie die Vulkan-Werft in Bremen. So lange kann es dauern, bis der Krebs kommt. Krebs in der Lunge, im Kehlkopf oder an Bauch- und Rippenfell. Manchmal können die Ärzte das bösartige Geschwür im Oberlappen der Lunge wegschneiden. Ist dagegen der Bauch- und Rippenfellkrebs erst einmal festgestellt, bleibt den meisten Patienten nicht mal ein Jahr. Gerade so lange, um die Sachen zu ordnen. Für Professor Woitowitz ist es die schlimmste aller Berufskrankheiten, "weil wir keine Waffen haben".

Bei jeder Untersuchung hat Kania Angst, "dass die doch was finden", sagt seine Frau. Als bliebe der Krebs sonstwo, wenn man ihn nicht beim Namen nennt. Das Risiko ist groß, dass sich in der Asbeststaublunge ein bösartiges Geschwür bildet. Kania sagt nichts. Die Hände liegen still im Schoß. Er schaut sie an, als müsse er sie neu kennen lernen. Nur wenn seine Frau schimpft, dass er sich hängen lässt, hebt er den Kopf. "Krank ist nicht gleich krank. Ich will ja, aber . . ." Er habe sich aufgeben, sagt sie.

Krebs, der durch Asbest entsteht, ist eine Berufskrankheit. Wer krank wird durch Arbeit, bekommt Rente. Aber so einfach ist es nicht. Immer wieder gelingt es den Berufsgenossenschaften, Ansprüche der Kranken abzuwehren.

Der Vulkan-Arbeiter Franz F. ist tot. Lungenkrebs. Der Lungenfacharzt vermutet, dass sein Patient infolge einer Berufskrankheit durch Asbest gestorben ist, und meldet es der Berufsgenossenschaft. Liegt er richtig, kann die Witwe mit Hinterbliebenenrente rechnen. Franz F. hatte keine Asbeststaublunge. Asbestkrebs erkennt die Berufsgenossenschaft aber in dem Fall nur an, wenn 25 so genannte Faserjahre nachgewiesen werden. Auf dieses Wort müssen Zahlenfetischisten gekommen sein. Ein Vierteljahrhundert lang an jedem Arbeitstag eine Million Asbestfasern pro Kubikmeter Luft eingeatmet, das gibt die volle Entschädigungsrente. Bei höherer Dosis genügt eine kürzere Zeit.

Bei Franz F. kommt die Berufsgenossenschaft nur auf 7,7 Faserjahre. Zu wenig. Für die Witwe gibt es keinen Cent.

Jetzt macht sich Rolf Spalek an die Arbeit. Spalek war Betriebsrat bei der Bremer Vulkan-Werft. 30 Jahre lang hat der Arbeitsschützer Wissen gesammelt. Er ist das Asbest-Gedächtnis der Bremer Vulkan. Nachdem die Werft vor sechs Jahren Pleite ging, hat er die kranken Kollegen weiter beraten. 3000 Mal. Allein von den Vulkanesen sind 600 Anzeigen mit Verdacht auf eine Asbestkrankheit bei der Berufsgenossenschaft eingegangen.

Spalek zieht einen Ordner aus dem Regal. Er will die Rechnung der Verwaltung widerlegen. Das ist bei der Vulkan-Werft schwerer als in anderen Firmen. Der Insolvenzverwalter hat viele Unterlagen weggeworfen, Sicherheitsdatenblätter, Akkordscheine, Arbeitsvorbereitungsunterlagen. Die könnten helfen bei der Beweisführung. Augenzeugen aufzutreiben ist auch schwierig bei einer Pleitefirma.

Spalek kann froh sein, dass die Werft-Betriebsräte damals, als noch Schiffe gebaut wurden, auf Messungen bestanden haben. Wie oft sie die Arbeit auf den asbestverseuchten Schiffen per Gerichtsbeschluss stoppen ließen, "kann ich gar nicht zählen". Jeder Arbeitsstopp ein Zeitverlust. "Die dachten, das ist Schikane von uns." Wie wütend dieser Ingenieur damals war. Der Betriebsrat hatte wieder einmal die Arbeit einstellen lassen, weil die Mannschaft keine Schutzkleidung trug. "Der hat eine Hand voll Asbestfasern genommen, in den Mund gesteckt und gefressen", erinnert sich Spalek. Was wollt ihr Asbest bringt doch niemanden um.

Spalek häuft Papiere auf seinen Tisch. Franz F. hat 26 Jahre auf dem Bremer Vulkan gearbeitet. Auf welchen Schiffen hat er die Asbestisolierungen herausgerissen? Wann hat er im Deckshaus direkt neben den Tischlern gearbeitet? Tischler haben asbesthaltige Platten gesägt, die Fasern haben sich im ganzen Raum verteilt. Wann war er im Maschinenraum? Direkt neben den Isolierern, die Asbest aufgespritzt haben. Spalek legt Liste um Liste an. Zuerst die Russenschiffe, auf denen Franz F. gearbeitet hat: Nicolay-Pogodin, Abakanles, Krasnoborsk, Krylenko, dann die Singapore-Pride mit dem Spritzasbest. Nicht zu vergessen die Kungsholm. Ein Institut hatte in den 70ern den Asbeststaub gemessen: 400 Millionen Fasern pro Kubikmeter Luft. Oder mehr? Die Fasern hatten den Messkopf schlichtweg verstopft. Spalek kommt auf weit mehr als 25 Faserjahre. Die Witwe klagt gegen den Bescheid der Berufsgenossenschaft.

"Ohne Spalek wüssten wir nicht mehr weiter", sagt auch Kanias Frau. Ist doch sonst keiner mehr auf der Werft. Mit jedem Brief geht sie zu Spalek, lässt sich dieses Fachlatein übersetzen. Manchmal will sie nur schimpfen. Wie Manfred Rüge. Bei ihm wurde eine Asbestose am Rippenfell festgestellt. Berufskrankheit ja, Rente nein. "Ich habe so eine Wut. Der Arbeitgeber hat was geschissen auf unsere Gesundheit." Ein Dutzend Mal ist er schon die engen Stiegen zu Spaleks kleinem Büro hochgeschnauft. Um zu reden. Und weil er diese Papiere nicht versteht. Eine Lungenfachärztin hat den 59-jährigen Maler und Lackierer untersucht. Weil sich sein Gesundheitszustand verschlechtert hatte, empfiehlt sie, eine Teilrente zu zahlen. Die Berufsgenossenschaft beauftragt einen zweiten Arzt. Der kommt zum Ergebnis: alles okay, keine Rente.

Die Ärzte, die von der Berufsgenossenschaft beauftragt werden, den Kranken zu begutachten, sind Schlüsselfiguren in dem Verfahren. Sie müssen den Patienten gründlich durchchecken: Lunge röntgen, EKG, Ultraschall am Herz, Blut untersuchen, ganz wichtig: die Lungenfunktion. Wie viel Sauerstoff nimmt die Lunge auf? Wie reagiert die Lunge auf Belastung? Das geht nicht ohne Fahrrad. Der Patient muss strampeln, erst leicht wie auf ebener Strecke, dann geht es den Berg hoch, der Widerstand wird stärker. "Wer eine solche Untersuchung nicht macht, begeht einen Kunstfehler", sagt Professor Woitowitz. Der Belastungstest auf dem Rad fehlt in manchen Gutachten, das Gerät ist teuer. "Ich wundere mich oft, was ich hier an so genannten medizinischen Gutachten zu sehen bekomme", sagt ein junger Arzt. Wenige Seiten, ein paar Untersuchungswerte mit dem lapidaren Zusatz "Belastung". "Ist der Patient um den Tisch gerannt, zwei Stufen runtergestiegen oder fünf Minuten Rad mit Widerstand gefahren " Unbrauchbar. In der Gießener Universitätsklinik nehmen sich die Ärzte für jeden Patienten einen Tag Zeit für Untersuchungen, Vorgeschichte der Krankheit und ein mehrseitiges Gutachten.

Manchmal ist eine Untersuchung auch schlampig. Wie bei Kania. Körpergröße: 1,72 Meter, Gewicht: 64 Kilo. Drei Wochen später ist Kania auf dem Papier vier Zentimeter größer und neun Kilo schwerer. Eine Schlamperei mit Folgen. Die Körpergröße ist ein Grundlagenwert, um festzustellen, ob seine Lunge so belastbar ist wie bei jedem anderen Mann seines Alters.

Die medizinischen Gutachter machen aber noch mehr. Mehr als sie können. Sie sollen den Arbeitsmarkt beurteilen. Hätte Kania noch Chancen, einen Job zu bekommen? Um wie viel sind seine Chancen gemindert? Weniger als ein Fünftel? Das ist die magische Grenze. Unter 20 Prozent Minderung der Erwerbsfähigkeit bekommt Kania keine Verletztenrente. "Aber der kann doch nicht mehr arbeiten", sagt seine Frau. Wer stellt einen Mann ein, der keine zehn Stufen steigen kann, ohne eine Pause einlegen zu müssen.

Mediziner als Arbeitsmarktexperten? "Das überfordert uns", sagt Professor Dr. Dennis Nowak von der Universitätsklinik München offen. "Hier werden soziologische, arbeitswissenschaftliche und berufskundliche Kenntnisse vorausgesetzt, für welche ein medizinischer Gutachter kaum sachverständig sein kann." Die Ärzte tun es trotzdem. Von ihrer Empfehlung hängt ab, ob ein Versicherter Rente bekommt oder nicht. Die Berufsgenossenschaften halten sich an den Rat der Mediziner. Und wenn ein Betroffener vor Gericht klagt, dann schaut der Sozialrichter schnell auf das medizinische Gutachten. Schließlich ist der Arzt der Experte. Damit schließt sich der Kreis.

Überfordert sind noch mehr. Rentenausschuss und Widerspruchsstelle der Berufsgenossenschaften sind mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern besetzt. Die Gewerkschafter sind oft Betriebsräte, Menschen aus der Praxis. Eine halbe Stunde pro Fall, jeder Fall zwei Aktenordner voller Gutachten und Messwerte, mehr Zeit ist nicht drin in der Widerspruchsstelle. "Ob ein Gutachten in allen Einzelheiten schlüssig ist, unvollständig oder schlampig, können wir nicht beurteilen", sagt Sönke Bock, für die IG Metall in der Widerspruchsstelle der Norddeutschen Metall-Berufsgenossenschaft. Das müsste die Verwaltung leisten, sagt er.

Spaleks Zeit ist abgelaufen. Keiner finanziert mehr seinen Job. Vier Jahre lang hat ihn mal das Arbeitsamt bezahlt, mal der Bremer Senat, mal hat ein engagierter Pastor etwa 17 000 Euro spendiert. Jetzt ist kein Geld mehr da. Spalek wird am heutigen Freitag den ausrangierten Kopierer mitsamt dem gespendeten Computer einpacken und das gelbe Papier von der Bürotür abhängen: "Arbeit und Zukunft für Bremen Nord. Beratungsstelle für Berufserkrankungen ehemaliger Vulkanesen und anderen" - das ist Geschichte. Wie die Vulkan-Werft.

Spalek hat Wut. Auf die Vulkan-Werft sowieso. Weil die Asbestgefahr so lange klein geredet wurde. Auf die Berufsgenossenschaft, die lange Zeit nur weggesehen hat. "Jetzt sind die Leute krank, und es wird mit allen Mitteln versucht, sie um ihre Rente zu bringen. Das sind Rentenquetscher."