In der Herde
Frankfurter Rundschau, 13. Februar 2004
Wenn Angestellte plötzlich Schafe hüten, arbeiten sie interne Konflikte auf – vielleicht
VON MICHAELA BÖHM
"Wir bitten Sie, sich zum oben genannten Termin morgens um 9 Uhr zur Verlesung des Testaments in unserer Notariatskanzlei einzufinden. Wir empfehlen Ihnen, in bequemer Kleidung zu erscheinen." Hochachtungsvoll... Der Notar ist echt, die Kanzlei auch. Nur das Testament ist fingiert. Zwei Teams des Konzerns, nennen wir ihn Körner, haben keine Ahnung, was an dem Tag mit ihnen passieren wird. Zwei mal zwölf IT-Spezialisten inklusive Gruppenleiter wissen nur: der Vorstand hat eine Unternehmensberatung beauftragt. Ziel ist eine Teamoptimierung. Was so viel heißt wie: Die Leute sollen stärker zusammen- und nicht gegeneinander arbeiten. Und die Führungskraft soll führen.
Der Notar verliest das Testament: Ein zufriedener Kunde hat ihnen aus Dankbarkeit seine Schafherde vererbt. Die muss jedoch, so seine Bedingung, am gleichen Tag in der Lüneburger Heide in Empfang genommen und über eine festgelegte Wegstrecke zu einem Viehzüchter getrieben werden. Dort ist die Herde zu verkaufen. "Nehmen Sie das Testament an?" Die Teams nicken. Die erste Aufgabe ist bestanden.
Die IT-Experten bekommen einen Lageplan und etwas Bargeld - aber nicht so viel, dass es für ein Taxi von Hamburg in die Lüneburger Heide reicht. Wie sie zum Schäfer kommen? Ihre Sache. Bahnhof, Fahrplan lesen, in den richtigen Zug einsteigen, Fußmarsch in die Heide. Bestanden.
Der Schäfer ist echt, die Schafe ebenfalls. 150 Schwarzköpfe. Jedes Team soll die Schafe zählen. Das ist schon schwieriger. Denn Schafe bewegen sich. Es klappt erst, als die Schwarzköpfe durch ein Gatter bugsiert werden. Jetzt sind die Tiere über eine Strecke von eineinhalb Stunden zum Viehzüchter zu treiben.
Eine Schafherde bewegt sich aber nicht von selbst. Nicht, wenn man sie von hinten scheucht, anschreit oder mit den Armen wedelt. Schließlich kommen die Produktspezialisten, Projektmanager und Disponenten auf die Idee, den Schäfer zu fragen. Und tatsächlich, kaum setzt sich dieser mit seinem Hund an die Spitze der Herde, trotten die Schafe hinterher. Nächste Erkenntnis: Wer nicht weiter weiß, muss sich die richtigen Informationen beschaffen.
Die Körner-Leute sichern die Herde ab, indem sie die Tiere wie die Ecken eines Trapezes umstellen. Fast zu einfach. Doch als längs des Wegs fette Wiesen locken und manch ein Beschäftigter sich seiner Sache schon so sicher ist, dass er nicht mehr auf die Schafe achtet, büxen die ersten Schwarzköpfe aus. Mitten in die Wiese hinein. Die IT-Spezialisten hinterher. Doch wer Schafen hinterher rennt, dem laufen sie davon.
Die Herde ist wieder beisammen, die letzte Station erreicht. Der Viehzüchter ist echt, das Verkaufsgespräch fingiert. Wie viele Tiere haben Sie zu verkaufen? Wie alt sind die Schafe? Gibt es Krankheiten? Welche Rasse, wie viele Mutterschafe? Einem Team gelingt es, seine Herde zu einem guten Preis zu verkaufen. Beim anderen Team winkt der Viehzüchter ab. Die Antworten sind so dürftig, dass er zweifelt, ob den Leuten die Herde gehört. Erkenntnis: Recherchieren, was man nicht weiß. Eigene Ziele setzen: Welchen Preis will ich durchsetzen? Wie viel ist auf dem Viehmarkt für Schwarzköpfe zu erzielen?
Die Teams sind erschöpft. Und hungrig. Für Proviant hat keiner gesorgt. Und keiner hat danach gefragt. Das Schäfercamp am Lagerfeuer ist rustikal. Gelegenheit, um das Erlebte zu besprechen. Wie hat sich jeder selbst erfahren? Die Gruppe? Den Leiter? Zwei Angestellte der Hamburger Unternehmensberatung Management Service beobachten die Teams: Wie kooperativ sind die Leute? Zeigen sie Leistung? Übernehmen sie Verantwortung? Wie präsentieren sie sich? Wie sind ihre sozialen Kompetenzen? Wie stark wirkt jemand an einer konstruktiven Lösung mit? Wie aufgeschlossen zeigen sie sich?
Sybill Petermann, Partnerin bei Management Service, kritisiert besonders die Führungskräfte. "In solchen Situationen zeigt sich falsch verstandenes Kumpeltum. Wer so tut, als sei er normales Mitglied des Teams, drückt sich vor seiner Verantwortung." Für Petermann ist das Schafetreiben Teil experimentellen Lernens. "Was jemand selbst erlebt, verinnerlicht er auch." Und behält es besser im Kopf als den hundersten Vortrag über die Bedeutung von Motivation. Eigene Stärken und Schwächen würden sichtbarer als in der täglichen Arbeit. In der Lüneburger Heide, glaubt sie, stellt sich heraus, wer gut delegieren kann, wem man vertrauen darf, wer schwach im Organisieren ist, aber prima Vorschläge macht.
Das Schafetreiben war für die Pädagogin keine beliebige Aktion, die sie dem Körner-Konzern für seine Teamoptimierung vorgeschlagen hatte. Jedes Training, sagt sie, ist für jeden Kunden maßgeschneidert. "Wir haben eine Situation gesucht, die die Teilnehmer an einen fremden Ort versetzt und hautnah und blitzschnell Erfolg und Misserfolg erleben lässt." So ein Tag könne zwar nicht alles umwerfen, was permanente Umstrukturierungen in einem Konzern an Frustration beim Einzelnen hinterlassen hätten, aber es sei eine Initialzündung, um Beschäftigte wieder zu motivieren.
Ihre Beobachtungen, die sie während des Tages gesammelt haben, würden dem Auftraggeber nicht mitgeteilt. Es sei denn, er wünscht es ausdrücklich. "Dann müssen wir das tun. Darüber informieren wir die Teilnehmer jedoch zu Beginn des Trainings." Das Gespräch am Lagerfeuer wird gefilmt. Den Videofilm bekommen Vorgesetzte nicht zu sehen. Es sei denn, das Team wünscht es. "Das halte ich manchmal für äußerst mutig", sagt Petermann. Denn Teilnehmer reflektierten oft nicht, wie Vorgesetzte die Informationen verwerten, die in überschwänglicher Begeisterung vor der Kamera erzählt wurden.
Wenn Unternehmen ihre Beschäftigten zum Teamtraining schicken, bleiben - abgesehen von den bestellten Psychologen - Fremde außen vor. Die Teilnehmer, heißt es, sollen unbefangen handeln. Vielleicht tun sich Firmen auch schwer damit, weil kleinkarierte Reibereien innerhalb der Belegschaft oder betriebliche Konflikte an die Öffentlichkeit dringen könnten. Mutproben für Manager, wie barfuß über glühende Kohlen spazieren oder bei Minusgraden im Zelt ausharren, gehören der Vergangenheit an, sagt Anton Hahne, Professor für Sozialkompetenz an der Hochschule Wismar. Ein Team in eine Höhle zu schicken, um dort dem Tasten, Fühlen und Hören eine neue Dimension zu verleihen und die Gruppe - im Gegensatz zur fremden Höhle - als etwas Vertrautes wahrzunehmen, sei zwar ein hübsches Spektakel. Doch die Erkenntnisse seien in den Arbeitsalltag kaum übertragbar. Um ein Team zusammenzuschweißen, muss es nicht erst Bäume fällen, Stämme zersägen und mit dem selbst gebauten Floß über den Fluss schippern. Lebendig konzipierte Rollenspiele tun es auch.
Trainer Peter Pradel aus München hat sich für ein Spiel aus der Erlebnispädagogik entschieden. Kurz vor Ende des Teamtraining in einem abgelegenen Hotel im Spessart. Das feste Schuhwerk, das die zehn Männer und Frauen des Frankfurter Energieversorgers Mainova vorsorglich mitbringen sollten, war überflüssig. Es geht nur auf den Parkplatz. In dicke Jacken gehüllt, stehen sie im Kreis, jeder hält ein Schnurende in der Hand. Wie ein Spinnennetz, in dessen Mitte auf einem Ring ein kleiner Ball kullert, der zunächst von einer grünen Flasche abgehoben und behutsam auf die nächste, drei Meter entfernte Flaschenöffnung balanciert werden muss. Vorsicht, denn fällt der Ball runter, geht die Bombe hoch. Und fix muss es gehen, mehr als 15 Minuten Zeit hat das Team nicht. "Langsam, noch langsamer, jetzt ein wenig nach links." Das Team hört auf das Kommando seiner Führungskraft. Alle gehen gleichzeitig in die Knie, trippeln gleichzeitig nach links, richten sich gleichzeitig auf. Der Ball plumpst trotzdem runter. Jetzt wären alle gleichzeitig tot.
Mit dem Ball ist es wie im richtigen Leben. Nur wenn sich das Team abstimmt, wenn keiner vorprescht und sich keiner wegduckt und alle den präzisen Kommandos gehorchen, klappt die Zusammenarbeit. Oder auch nicht. Albern? Überhaupt nicht, sagen die Mainova-Beschäftigten. "Wir kommen damit viel schneller an den Kern unseres Problems", sagt Martina Schneider. Das Problem: In der Zusammenarbeit zwischen Marketing und Vertrieb knirschte es immer mal wieder. Zwei Unternehmenskulturen prallen aufeinander, hier das Marketing mit Duz-Kultur und flacher Hierarchie, kreativ, spontan, was nach außen oft planlos wirkt. Dort der Vertrieb mit formellem Umgang, hierarchisch, weniger spontan als strukturiert. Deshalb wünschten sich die Arbeitnehmer ein gemeinsames Teamtraining, bei dem jedoch mehr geredet, ausgetauscht und diskutiert als gespielt wurde. Einige Teilnehmer sind enttäuscht. "Wir hätten mehr Übungen dieser Art gebraucht. Im Plenum kann mir einer viel erzählen, aber wenn ich es selbst erlebe, wirkt das bis in den Arbeitsalltag hinein", sagt eine Beschäftigte. Sie wäre liebend gern in den Hochseilgarten gestiegen. "Wenn ich hochklettere und mein Kollege unten hält mir das Seil, dann weiß ich, auf den kann ich mich auch bei der Arbeit verlassen."
Hotels haben längst entdeckt, dass Unternehmen nicht nur Betten, warmes Essen und einen Konferenzraum brauchen. "Teamtraining? Wir haben die Locations", locken Hoteliers finanzkräftige Kundschaft auf Seilparcours und zu Kletterwänden in schwindelnde Höhen. Hochseilgarten? Peter Pradel schüttelt den Kopf. Auftrag des einstigen Elektrotechnikingenieurs mit Trainerausbildung war es, die Zusammenarbeit zu stärken sowie gemeinsame Ziele und Aufgaben zu definieren. Das ließe sich effektiver im Plenum und in Kleingruppen erarbeiten als bei Spielen. Die will er auch nicht überbewerten. "Spiele lassen sich gut in Tiefphasen einsetzen, nach der Mittagspause etwa. Sie wirken belebend." Eben als Wachmacher.
Spiele und Übungen dienen dazu, Botschaften zu transportieren. Erlebtes lässt sich schneller begreifen, als wenn nur das Denken angesprochen wird. Doch Sinn macht Teamtraining nur dann, wenn die Spiele und Übungen zum langfristigen Unternehmensziel passen, sagt Psychoanalytiker Micha Hilgers, der selbst als Coach für Unternehmen arbeitet. Aber nicht, wenn betriebliche Konflikte an externe Trainer delegiert werden mit dem Wunsch, nach einem Wochenende ein funktionierendes Team zurückzuerhalten. Problematisch findet er Gruppentraining besonders, wenn die betriebliche Hierarchie für die Dauer eines Wochenendes scheinbar außer Kraft gesetzt wird. Wenn von der Sekretärin bis zum Chef alle gemeinsam im Wald den "Sumpf der Versuchung" überqueren. Der Sumpf, in dem es von Krokodilen nur so wimmelt, wird mit Seilen abgegrenzt. Die Gruppe soll - ohne miteinander zu sprechen - Holzbretter so platzieren, damit alle auf die andere Uferseite gelangen, ohne dass einer gefressen wird. Die Botschaft ist klar: Nur gemeinsam ist es zu schaffen. Etikettenschwindel, sagt Hilgers. Denn schon von Montag an gelte die betriebliche Rangordnung wieder. Manchmal sei ein solches Teamtraining gar kontraproduktiv. Wenn der Chef beispielsweise glaube, seine vermeintliche Schwäche beim Sumpfüberqueren später mit besonderer Autorität ausgleichen zu müssen.
Die kreativen Methoden in der Personal- und Organisationsentwicklung sind vielfältig. Und allesamt geklaut: aus der Erlebnispädagogik, aus der Sozialarbeit, aus der systemischen Familientherapie. Manche Übungen erinnern an Teenie-Partys - wie etwa "Dance the Uhu". Paarweise wird bei schwungvoller Musik getanzt, wobei die Partner an der Stirn aneinander kleben. Inhalt: Körper wahrnehmen, Kontakt herstellen. Andere Übungen gleichen Kindergeburtstagen - wie zum Beispiel "Löffeltaxi". Einer drapiert 15 Kaffeelöffel auf dem Körper seines Partners, der so schnell wie möglich damit den Raum durchqueren muss. Luftballons in der Luft balancieren, Feedback-Postkarten an sich selbst schreiben, das Seminar als Comic sprechen, einen imaginären Rucksack mit den Lasten des Alltags füllen. Die Spielekoffer sind voller Anregungen: Im "emotionalen Entwicklungsland Arbeitswelt", sagt Hochschuldozent Hahne, geht es darum, "spontan zu handeln", "Konflikte zu verdeutlichen", "Vertrauen zu Kollegen zu entwickeln", "kreative Prozesse anzuregen" oder "Kooperation einzuüben".
Um aufgeblasene Bezeichnungen für Übungen und Spiele sind Trainer, die sich selbst gern Prozessberater, Chance- und Konfliktmanager, systemische Personalentwickler, Prozessleiter oder Moderator nennen, nicht verlegen. Allgemein verbindliche Qualitätskriterien für Teamtraining und deren Leiter gibt es keine. "Das ist unbefriedigend, aber in der Praxis kein gravierendes Problem, wenn die offiziellen Anforderungen und unterschwelligen Erwartungen übereinstimmen", sagt Professor Hahne von der Hochschule Wismar. "In der Praxis trennt sich die Spreu vom Weizen."
Doch wenn der klangvolle Name des Trainers und der Erfolgsdruck des Unternehmens den kritischen Blick vernebelten, ginge die Chance zur Weiterentwicklung leicht baden. Micha Hilgers ist noch kritischer. "Hier geht es um viel Geld des Unternehmens, um die Schicksale der Mitarbeiter und die Zukunft des Unternehmens." Jeder Personalentwickler müsste sich die Vorgehensweise, den Einsatz von Übungen, deren Sinn und Ziel detailliert erläutern lassen. "Denn ein gescheitertes Training ist schlimmer als gar keins."
Was unter dem Deckmantel Teamtraining teilweise angeboten werde, sei unverantwortlich. Besonders, wenn psychotherapeutische Methoden eins zu eins in die Wirtschaft übertragen werden. Als schädlich bezeichnet Hilgers Organisationsaufstellungen nach Hellinger. Bert Hellinger ist bekannt und umstritten wegen seiner Familienaufstellungen, bei denen verborgene Spannungen und angeblich unheilvolle Verbindungen innerhalb des Systems Familie sichtbar würden. Die Teilnehmer einer Gruppe, die sich nicht kennen, nehmen im Seminar den Platz eines Familienmitglieds ein. Die Lösung soll darin bestehen, dass jedes Familienmitglied einen guten Platz findet. Dann könnten Energien wieder frei fließen, Versöhnungen seien möglich. Ähnliches findet als Organisationsaufstellung auch in Unternehmen statt. Beschäftigte setzen sich im Raum so, wie sie glauben, es entspräche ihrem Platz im Team oder Betrieb. Einer stellt sich mit verschränkten Armen in die Ecke, ein anderer setzt sich mitten in den Raum, der dritte mit dem Rücken zum Kollegen, mit dem er ein Büro teilt. Damit würden Strukturen sichtbar, die sonst verborgen bleiben, verteidigen Befürworter die Methode.
Die Gefahr, sagt Hilgers, bestehe darin, dass Beschäftigte ihre Grenzen überschreiten, Persönliches preisgäben und Konflikte offenbar würden, die kein Trainer auffangen könne. So etwas verbiete sich auch, weil die Trainer meist psychotherapeutische Laien seien. "Man lässt schließlich auch keinen Schuster seine Zähne behandeln." Dass sich dennoch viele Unternehmen auf solche oder andere haltlose Verfahren einließen, werfe ein Licht auf die Heilserwartungen von Führungseliten.
Was aber unterscheidet seriöses Training von Firlefanz? Transparenz sei wichtig, sagt der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler Hahne. Die Teilnehmer müssten darüber informiert sein, warum und was mit ihnen geschieht und müssten jederzeit aussteigen dürfen. Freiwilligkeit als oberstes Gebot. Keine Spielchen, um Beschäftigte ohne deren Einverständnis zu testen und auszusortieren.